„The fringed curtains of thine eye advance. And say what thou seest yond.” (William Shakespeare, The Tempest)
Johann Sebastian Bachs Praeludium in h Moll aus dem Wohltemperierten Klavier, Band I, bildet den Vordergrund oder eine Art transparenten, „befransten Vorhang“ (fringed curtain), der, schließlich beiseitegeschoben, den Blick freimacht auf Viktor Ullmanns Andante seiner 5. Klaviersonate, die er 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt komponierte und dem er die erste Strophe des Gedichts „Vor dem Schlaf“ von Karl Kraus (1919 in „Die Fackel“) als Motto voranstellte.
Vor dem Schlaf
So spät ist es, so späte, /was werden wird, ich weiß es nicht.
Es dauert nicht mehr lange,
mir wird so bange,
und seh' in der Tapete
ein klagendes Gesicht.
Allein bin ich, alleine, /was außerhalb, ich weiß es nicht.
Ach, daß mir's noch gelänge,
mir wird so enge,
und seh' in jedem Scheine
ein fragendes Gesicht.
Nun bin ich schon entrissen, /was da und dann, ich weiß es nicht,
ich kann sie nicht behalten
die Wahngestalten
und fühl' in Finsternissen
das sagende Gesicht.
Bachs Werk war für das Schaffen Viktor Ullmanns eine stete Inspirationsquelle. Metaphernreiche Anspielungen auf Bachs Fugenkunst, auf Choräle oder auf seinen Namen sind einigen seiner Werke eingeschrieben.
Vorliegende Hommage könnte ein Versuch sein, Ullmanns Andante wie durch oder hinter einen Vorhang in unterschiedlicher Klarheit bzw. Trübung nachzuspüren. Sie könnte als phantasierte Recherche oder gar als klingende „Analyse“ der gestischen und harmonischen Strukturen von Ullmanns Musik gehört werden. Einerseits „vertonte“ ich mein Hörerlebnis seines Andantes andererseits konfrontierte ich diese Musik mit dem Beginn des Praeludiums von J.S. Bach, dem ich ebenfalls komponierend lauschte.
Auch für Vor dem Schlaf gilt, was ich bereits zu meinem Bühnenwerk …und fühl in Finsternissen das sagende Gesicht formulierte: „Die Rezeption der Stücke Ullmanns ist eng mit Theresienstadt verknüpft und mit der erstaunlichen Tatsache, dass ein Großteil seines überlieferten Werks unter den albtraumhaften Bedingungen dieses von den Nazis als „Täuschungstheater“ inszenierten Lagers entstand. Der Gehalt, die originelle Tiefe seiner Kompositionen teilt sich dem Hörer jedoch gänzlich ohne das Wissen über seine Biographie unmittelbar mit. Dennoch blendet das Stück die historische Komponente keinesfalls aus. Denn Viktor Ullmanns Musik deute ich auch als Botschaften. Ich nehme sie wahr als von den Nationalsozialisten zynisch erlaubte Mitteilungen und gleichzeitig als Kassiber eines im Spannungsfeld zwischen Täuschung und geistigem Widerstand stehenden Künstlers. In ihrer verspäteten „Ankunft“ ähneln Ullmanns jahrelang verdrängte Kompositionen den unzähligen Briefen, die der Protagonist in Doron Rabinovicis Erzählung Nachsendungen von seinen Verwandten, viele Jahre nach deren Ermordung, im Postkasten seiner verstorbenen Mutter vorfindet. Wie diese „Botschaften“ der ins Konzentrationslager Verschleppten wurde Ullmanns Werk erst Jahrzehnte nach der Entstehung und seiner Ermordung für die Welt zum Vorschein bzw. zum Klingen gebracht.“