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Wenn die Vögel die Nacht aufritzen

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Norbert Sterk

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Norbert Sterk

„...wenn die Vögel die Nacht aufritzen-“, 3 Fragmente für Vokalquartett

nach Worten von Nelly Sachs und W.G. Sebald (2007/09)

 

  1. Teile dich Nacht
  2. „...und blieb ich am äußersten Meer“ - Hommage a Nicolas Gombert
  3. Mutter/ Meerzeitgeblüh

 

Die Dichtung von Nelly Sachs kündet von einer tiefen Beunruhigung. Sie ist gezeichnet von den Erschütterungen „der Menschheit im Angesicht der Shoa“.*

Die Frage der Identität ist ihr eingeschrieben: Im schwedischen Exil schrieb die Dichterin jüdischer Herkunft in ihrer Muttersprache, dem Deutschen. Das unaufhebbar schmerzliche Ineinander von „deutsch“ und „jüdisch“ ist hinter ihren Texten spürbar. (Dennoch gab es immer wieder Stimmen, Nelly Sachs zu einer Symbolfigur der Versöhnung zu verklären.)

In den letzten Lebensjahren spitzte sich die psychische Situation von Nelly Sachs derart zu, dass sie einige Jahre in psychiatrischen Krankenhäusern zubringen musste. Für die Komposition habe ich vor allem späte Texte ausgewählt und assoziativ aneinandergereiht. Sie sollen eine Art Hommage für Nelly Sachs darstellen: „[…] Ganz verloren mitten im Text ist immer der andere, der Autor.“ **

Die Komposition besteht aus drei fragmentarischen Sätzen, die ineinander übergehen und wie ein durchkomponierter Satz wirken. Nicht um Textverständlichkeit ging es mir während der „Vertonung“, viel mehr wollte ich die den Worten innewohnende Musik hörbar machen.

Häufig setzt Nelly Sachs ans Ende einer Zeile oder des Gedichtes einen Gedankenstrich. Er scheint dem Klingen und Rauschen der Vokale und Konsonanten die Weiße des Blattes zu öffnen. Diesem „in den Raum Weiterklingen“ wollte ich komponierend lauschen, ohne das Verletzliche, Widerständige und Brüchige der Gedichte zu überdecken.

1. Teile dich Nacht/ deine beiden Flügel angestrahlt// zittern vor Entsetzen [...] ***

2. „...und blieb ich am äußersten Meer“ ist eine Hommage an den Renaissance-Komponisten NicolasGombert, über dessen Biographie nahezu nichts bekannt ist. Vermutlich war er Schüler von Josquin. Von einer unzulänglichen Wissenschaft wurde er der „Lost Generation“ zugeordnet, sozusagen als „Lückenfüller“ zwischen Josquin de Pres und Orlando di Lasso.

In Wahrheit aber ist er einer der erstaunlichsten und kühnsten Komponisten der Renaissance, der einen eigenen, äußerst dissonanten „Stil“ entwickelte. Wie bei Nelly Sachs ist ein Großteil seiner Werke von tiefer Melancholie gezeichnet.

Gerolamo Cardano, Renaissance-Humanist aus Pavia, widmete Gomberts rätselhafter Biographie wenige, dafür umso beunruhigendere Zeilen. Er habe sich als Geistlicher an einem Chorknaben vergangen und sei von Karl V. auf  das Meer, auf die Galeeren verbannt worden, wo er einige Jahre seines Lebens (sozusagen im Exil) habe verbringen müssen, bis ihn Karl V. (aufgrund seiner Musik) begnadigt habe...

Inspirationsquelle war u.a. die 6stimmige Mottete „Media vita in morte  sumus“, deren aufsteigende dunkle Linien sich in meiner Musik zu aufsteigender Chromatik wandelten. Im Gegensatz zu Gomberts wild wuchernden Polyphonie, ist die Polyphonie meines Stückes nicht mehr nachvollziehbar, sondern lediglich als dissonante Harmonik wahrnehmbar.

Als Text wählte ich W.G. Sebalds Worte nach dem Psalm 139: und blieb ich am äußersten Meer ****, sowie aus „Teile dich Nacht“: [...] denn ich will gehen/ und bringe dir den blutigen/ Abend zurück

3. In „Mutter/ Meerzeitgeblüh“ heißt es u.a.

 [...]

Leise vollendet sich               Das Flötengerippe der Toten

die schlafende Sprache        plötzlich über die Grenze gezogen

                                                     Das geistige Alphabet am Gehör

                                                     des Schweigens leuchtet

von Wasser und Wind           Asche des Grauens die Hinterlassenschaft

[...]                                                              (in „Teile dich Nacht“)

(in „Flucht und Verwandlung“)*****                                           

                       

[...]

Su Su Su

            (in „Glühende Rätsel“)    

[…]

O-A-O-A-

ein wiegendes Meer der Vokale

Worte sind alle abgestürzt –

            (in „Glühende Rätsel“)

 

*Christine Rospert: Poetik einer Sprache der Toten, transcript Verlag, Bielefeld 2004, S.19

**Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1992, S.43

***N. Sachs: aus „Suche nach Lebenden“, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1971

****W.G. Sebald: in Nach der Natur, Greno Verlagsgesellschaft m.b.H., Nördlingen 1988

*****Nelly Sachs: aus Fahrt ins Staublose, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1961