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"...und fühl' in Finsternissen das sagende Gesicht"

für Bassbariton, Sprecher:in, Vokalist:innen & Ensemble

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Norbert Sterk

Autor(en)

Norbert Sterk

Ölbild von Elisabeth Holzer

 

Inspirationsquellen dieses Zyklus bzw. Musiktheaters sind Prosawerke und Gedichte von Doron Rabinovici, Rose Ausländer, Nelly Sachs, Viktor Ullmann, Karl Kraus & Robert Schindel, die ich assoziativ zu einem „Stück in mehreren Bildern“ verknüpft habe sowie Kompositionen Viktor Ullmanns.

Insbesondere das Andante der im Konzentrationslager Theresienstadt entstandenen 5.Klaviersonate  Viktor Ullmanns fungiert im Mittelteil des Stückes (Der fremde Passagier) als eine Art „Tapete“, von der Karl Kraus in seinem Gedicht Vor dem Schlaf spricht und vor der sich wie vor einem Bühnenbild im Theaterraum die „Handlung“ der Komposition entwickelt. Dessen erste Strophe hat Ullmann jenem 2. Satz als „Motto“ vorangestellt.

So spät ist es, so späte, / was werden wird, ich weiß es nicht.
Es dauert nicht mehr lange,
mir wird so bange,
und seh' in der Tapete
ein klagendes Gesicht.

Allein bin ich, alleine, / was außerhalb, ich weiß es nicht.
Ach, daß mir's noch gelänge,
mir wird so enge,
und seh' in jedem Scheine
ein fragendes Gesicht.

Nun bin ich schon entrissen, / was da und dann, ich weiß es nicht,
ich kann sie nicht behalten
die Wahngestalten
und fühl' in Finsternissen
das sagende Gesicht.*                                                                                                    

Der fremde Passagier beschreibt den Gang in unterschiedlichstem Tempo durch die Landschaften dieser Musik und meine dabei entstehenden instrumentalen Gedanken und Reflexionen. Vor dem Hintergrund des von Ullmann auch als Notturno bezeichneten Satzes entfaltet sich das Werk als eine komponierte Recherche, als klingende, genaue Analyse der mäandernden Harmonik und polyphonen Strukturen, deren Ergebnisse allerdings noch nicht absehbar, noch „unerhört“ und selbst Kunstwerk sind. Sie könnten einem auskomponierten Echo von Ullmanns Andante gleichen, dem Widerhall, den diese Musik in mir auslöst, der Eigendynamik entwickelt und der die Worte der Autor*innen inmitten der neuen Strukturen durch die Stimme des Baritons zum Leuchten bringt…

Allusionen zu anderen Werken Viktor Ullmanns, die ich besonders liebe, könnten sich beim Lauschen einstellen wie der Quasi marcia funebre der 1. Klaviersonate, sein Klavierkonzert, die lediglich fragmentarisch erhaltene Violinsonate, das ebenfalls in Theresienstadt entstandene 3.Streichquartett, der Cornet oder Der Kaiser von Atlantis.

Die Rezeption der Stücke Ullmanns ist eng mit Theresienstadt verknüpft. Denn ein Großteil seines überlieferten Gesamtwerks entstand unter den entsetzlichen Bedingungen des von den Nazis als „Täuschungstheater“ für die Außenwelt inszenierten Lagers. Theater- und Musikaufführungen waren hier möglich. Mit der Lüge „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ wurde eine internationale Delegation des Roten Kreuzes hinters Licht geführt.

Der Gehalt, die originelle Tiefe von Ullmanns Kompositionen teilt sich dem Hörer jedoch gänzlich ohne das Wissen um seine Biographie unmittelbar mit. Dennoch blendet meine Komposition die historische Komponente keinesfalls aus. Denn Viktor Ullmanns Klänge jener Zeit deute ich auch als Botschaften:

Ich nehme sie wahr als von den Nationalsozialisten zynisch erlaubte Mitteilungen und gleichzeitig als „Kassiber“ eines im Spannungsfeld zwischen Täuschung und geistigem Widerstand stehenden Künstlers.

In ihrer verspäteten „Ankunft“ ähneln Ullmanns jahrelang verdrängte Kompositionen den unzähligen Briefen, die der Protagonist in Doron Rabinovicis Erzählung Nachsendungen von seinen Verwandten, Jahre nach deren Ermordung, im Postkasten seiner verstorbenen Mutter vorfindet. Wie diese „Botschaften“ der ins Konzentrationslager Verschleppten wurde Ullmanns Werk erst Jahrzehnte nach der Entstehung für die Welt zum Vorschein bzw. zum Klingen gebracht. Den „Nachsendungen“ ist in der Komposition ein eigener Abschnitt gewidmet.

… und fühl' in Finsternissen das sagende Gesicht entsteht für den Sänger Steven Scheschareg, dessen Eltern vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und der sich in zahlreichen Konzerten für die Musik der Ermordeten, Vertriebenen und Vergessenen einsetzt. Ebenso versiert und leidenschaftlich interpretiert er die Musik der Gegenwart. Timbre und Charakter seiner Stimme fungieren als wesentliche Anregung für die physiognomische Gestaltung dieser Musik. Nicht selten scheint der Atem des Sängers über die Harmonien hinwegzufegen, sie kräuseln lassen und so den entstehenden Strukturen und Verzweigungen Leben einzuhauchen. Gemäß den unterschiedlichen Teilen innerhalb Ullmanns „Andante“ ist meine Komposition zyklisch angelegt. Jeder Satz, jedes „Kapitel“ entspricht einem Abschnitt.

„Vertont“ werden Texte von Rose Ausländer, Karl Kraus, Doron Rabinovici, Nelly Sachs, Robert Schindel und Viktor Ullmann. Elisabeth Holzer schuf zu mehreren Abschnitten des Zyklus eine Bildinstalltion. Im September 2025 gelangen Teile dieses Kompositionszyklus, die ein stimmiges Ganzes bilden, im Reaktor im Rahmen der Konzertreihe des Ensemble Reconsil unter der Leitung von Antanina Kalechyts und mit Steven Scheschareg zur Uraufführung.

 

 

*aus: Karl Kraus, Die Fackel, 2019