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"Selbstportrait"

Oktober 2023

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Norbert Sterk

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Norbert Sterk: Ein Selbstportrait

„Komponieren ist der Versuch, die Stille in mir – und den Lärm – aufleben zu lassen, ihren Farben und Klängen zu trauen – ohne sie in ein Korsett zu zwingen – und sie auf behutsame, vielfältige Weise wahrzunehmen. Die Komposition selbst ist ein sorgfältiges Protokoll dieses langsamen Wahrnehmens und beschreibt einen Prozess des Hörens.“ (Norbert Sterk, 2005)

Anfänge

Lebensverändernd, und ich sag es ganz bewusst so pathetisch, war, als ich mit ca. 8 Jahren die „Unvollendete“ von Schubert hörte. Nie zuvor hatte mich irgendetwas derart erschüttert und gepackt. Im Innersten getroffen vom Gehalt dieser Musik, hatte ich den Wunsch, selbst etwas derart Großartiges entstehen zu lassen. Dieses Gefühl, lauschend eine rätselhafte, traumartige Welt zu betreten, in der eine Art von Zeitlosigkeit oder jedenfalls ein anderes Zeitempfinden herrscht, wollte ich offenbar komponierend wieder und wieder aufs Neue erfahren.

Vorerst begann ich unzählige einstimmige Lieder zu komponieren, die ich sang und auf der Blockflöte spielte. Ich kaufte mir mehrere Theoriebücher und Partituren. Gleich danach machte ich mich - aus heutiger Sicht - vollkommen dilettantisch, weil unspielbar, an 2 Symphonien, die eine Art Mischung aus Schuberts Unvollendeter, Bruckners 9., Mahlers 4. und Wagners Tannhäuser-Ouverture darstellten. Abgesehen von Wagner sind Schubert, Bruckner & Mahler nach wie vor ganz besondere Heros für mich. Spuren der Musik dieser Komponisten (hoffentlich nicht Wagner!) lassen sich vermutlich in all meinen Werken zumindest erahnen, bis heute... 

Wurzeln -wenn auch nicht die einzigen- meines Komponierens liegen also -und das ist vielleicht erstaunlich für einen Komponisten des 21.Jhds.- in der Romantik....

Dennoch war ich traurig, denn ich hielt mich für den letzten einer offenbar untergegangenen Zunft. Als ich im Radio hörte, dass vor nicht allzu langer Zeit ein gewisser Robert Stolz verstorben sei, erfüllte mich das mit ungeheurem Glück: offenbar gab es immer noch Menschen, die jetzt, in der Gegenwart oder wenigstens vor kurzem noch, Musik erfinden wollten! Ich war nicht mehr allein. (Robert Stolz mag ich übrigens immer noch und ich bin irrational stolz – rorbertstolz -  auf sein absolut vorbildliches Verhalten während der Nazizeit). Bald wusste ich: Im Konservatorium und in der Musikhochschule lehren lebendige Komponisten (damals leider noch keine Komponistinnen)!

Mit 13 wurde ich in die „Klasse Reinhold Portisch“ aufgenommen, um Tonsatz und Komposition zu studieren. Bei ihm lernte ich György Ligeti und seine Musik kennen, die einen ähnlich positiven Schock auf mich ausübte, wie Schuberts Unvollendete.

In Ossiach, bei KH Füssls und Ivan Eröds Analyseseminar, wir analysierten Bach und Beethoven, begegnete ich legendären Komponisten des 20. Jahrhunderts, wie Ernst Krenek und Gottfried von Einem. Was davon blieb, ist eher Anekdotisches. Ich erinnere mich an ein Podiumsgespräch zwischen Cesar Bresgen, der in der Nazizeit Propagandamusik geschrieben hatte, Ernst Krenek, der in jener Zeit als „entartet“ diffamiert worden war und emigrieren musste und Gottfried von Einem, der, was wenige wissen, in Yad Vashem als „Gerechter unter den Völkern“ ausgezeichnet wurde. Die Ungeheuerlichkeit der scheinbar naiven gemeinsamen Präsenz Kreneks und Bresgens auf einer Bühne wirft ein peinliches und charakteristisches Licht auf die damalige Verdrängungskultur in Österreich. Krenek verhielt sich – verständlich! -  abweisend.

Dass ich durch den Unterricht bei Portisch schließlich in eine arge Krise geriet, die jahrelang jede Kreativität in mir unterdrückte und aus der mir erst mein wichtigster Lehrer HK Gruber heraushalf, ist eine andere Geschichte...

Gruber, Komponist, Dirigent, Kontrabassist und Chansonniere, lehrte mich, mit Harmonik und musikalischen Strukturen sehr sorgfältig umzugehen. Jede Wendung musste genau ausgehört werden, jeder Ton auf irgendeine Weise "sinnvoll" begründet sein und Fragen, wie, ab wann eine Musik geschwätzig sei, wurden erörtert. Alles sollte einer inneren Logik folgen. Einer seiner Leitsätze war und ist: Musik beginnt mit dem Sprrrrrechen! (Er ist ein Enthusiast des rollenden „rrr“ und der "platzenden Konsonanten", was einen lustvollen Fokus auf die Deutlichkeit des Artikulierens legt). Die Lust am Gesprochenen und die Freude, die in den Worten verborgene Musik zum Klingen zu bringen, verband mich mit ihm. Bis heute sind Worte eine der wichtigsten Inspirationsquellen für mich. Und: ich lernte viel, was Instrumentation anbelangt. Insbesondere, da Gruber mir Arrangement-Aufträge, die ursprünglich er wahrnehmen sollte, an mich weiter delegierte, zu meinem Glück.

Musik über Musik I

“Tulifant-Collage” (1996)

Etwa erstellte ich einen zwanzigminütigen symphonischen Satz auf Grundlage der Musik von Gottfried von Einems Oper Tulifant, der in Brno durch das Symphonieorchester, die Philharmonie Brno, uraufgeführt wurde.

Ich durfte dabei Übergänge kompositorisch gestalten, das Ganze geriet eigentlich zu einer Orchesterphantasie, zur „Tulifant-Collage“. Auf diese Weise erkundete ich das Werk eines anerkannten Komponisten, indem ich dessen Musik mit neuen Farben versah und arrangierend oder gar sensibel komponierend in die Substanz dieser Musik vordrang und so versuchte, ihr ureigenstes Wesen zumindest scheinbar zu begreifen. Was ich wollte, war, mich einem fremden Künstler auf möglichst phantasievolle Weise zu nähern, also im Grunde eine kreative Art, andere z. T. alte Meister zu studieren und spezielle Aspekte vielleicht neu zu beleuchten – als „Musik über Musik“.  Das ähnelt ein bisschen den Künstler:innen, die ins Museum gehen und ein Gemälde eines Anderen quasi neu zeichnen.

„Saties Parade“ (1997)

Eine für mich sehr wichtige Arbeit in dieser Reihe war „Saties Parade“. In diesem „Ballet Realiste“ von Jean Cocteau und Erik Satie, entstanden für die berühmte Diaghilew-Truppe, veranstalten Zirkus-Artisten Werbung für eine Zirkus Vorstellung, ein Preview sozusagen, eine Parade eben. Bei mir versuchen nun drei Clowns, eine Pianistin, ein Saxophonist und ein Schlagzeuger, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden musikalisch-akrobatischen Fähigkeiten ein ganzes Orchester mit all seinen Instrumenten zu imaginieren als eine Parade für Saties „Parade“. Ich schlage vor, wir hören ein bisschen hinein in diese Musik…

Hörbeispiel: 4 Min. Ausschnitt Saties Parade

Ein Zelebrieren des Verzögerns von Zeit

Etwa zur gleichen Zeit erhielt ich meine ersten richtigen Kompositionsaufträge für die Wiener Festwochen und die ZeitTon -Tage von Ö1. Ich durfte ein Stück für Johannes Kalitzke, das Ensemble „die reihe“ und Timna Brauer komponieren mit Texten eines meiner Lieblingsdichter, Samuel Beckett. Bei ihm fand ich Gedanken, die Musik, die mir vorschwebte, zu beschreiben schienen, z.B diesen Satz.: „Das Gleiche nochmal anders“.

Während der Arbeit an diesen Stücken kristallisierten sich für mich Vorstellungen heraus, die mein musikalisches Denken der kommenden Jahre prägen sollten. Die Harmonik bleibt in diesen Stücken über weite Strecken gleich. Ich nannte es „ein Zelebrieren des Verzögerns von Zeit“, sprach vom „Ausloten des Erklingenden“, vom „Hineinwuchern in die vergehende Zeit“ und von „belebtem Stillstand“, wodurch sich „Langsamkeit und Genauigkeit“ einstelle. „Musik und überhaupt jede Kunst“ habe „diese Kraft, ein Sein im Augenblick erlebbar zu machen, das Eintauchen in eine andere Zeitebene innerhalb einer Zeit, die außerhalb stattfindet. Nicht um die Beschwörung idyllischer Oasen ging es mir. Schon eher darum, einen Moment aus unterschiedlichster Perspektive zu beleuchten, ihn komponierend immer neu zu hören und so auf möglichst intensive Weise erlebbar werden zu lassen, dieser ‚Moment‘ kann lärmend sein, jenseits jeglicher Ruhe…“

Bestätigung und Inspiration fand ich auch beim mexikanischen Poeten und Essayisten Octavio Paz. Dessen Sätze in „Das Labyrinth der Einsamkeit“ faszinierten mich:

„Um Mittag hält alles, das Leben wie die Sonne, einen Augenblick inne und zögert, fragt sich, ob ein Fortschreiten der Mühe lohnt. In solch einem Moment des Stillstands, der zugleich ein Schwindel ist… “ sollte sich dann Unerhörtes ereignen…

(Einige Titel, die ich verwendete, sind inspiriert von Octavio Paz: Am Rand des Augenblicks, land of closed eyes, Land der wachen Spiegel, land of sleepless mirrors usw.)

2004 komponierte ich eine Hommage an den Schöpfungsmythos der durch Kolonialisierung nahezu restlos vernichteten Achumawi aus Kalifornien. Die Achumawi erzählten ihre Mythen auf langsame, sorgfältig abwägende Weise, genannt „Utentbe-Stil“. Er ist geprägt von fantasievollen, variantenreichen Wiederholungen des Gleichen. Ein Zustand wird von vielen Seiten betrachtet, Gedanken durch Momente des Nachsinnes miteinander verbunden. Bewegung erfolgt nahezu unmerklich. Das ähnelte meinem eigenen Komponieren, fand ich.

Die Gleichzeitigkeit von Stillstand und Bewegung benennend lautet der Titel dieser groß besetzten Ensemblekomposition „Die Sonne stand still. Der Mond trieb davon“.

Wie die Musik von damals klingt, zeige ich euch aber anhand eines anderen Stücks, „Die Ankunft des Atemzugs“ für Violine im Ensemble aus dem Jahr 2005. Im Verklingen des am Klavier angeschlagenen Anfangsakkordes ist für mich bereits das gesamte Stück vorweggenommen… Der Verlauf des Stücks könnte als komponierte Analyse dieses Akkords gesehen werden: als würde nach dem Anschlagen der Akkord unter dem Mikroskop betrachtet werden. Die Entfaltung des Stücks gleicht dann der Beschreibung dieser vergrößerten Ansicht.

All das sind Interpretationen im Nachhinein. Mein Traum ist, von den Tönen an der Hand genommen zu werden, mit deren Hilfe ich ein mir unbekanntes Land entdecke indem ich ihnen einfach folge ohne sie irgendwo hinzuzwingen…

Robert Schindels Worte wählte ich als Motto.

Der Flug der Libelle

Die Ankunft des Atemzugs stauen

herrlich vorm Horizont die Zeit auf

Überdies feiert das Stück die Geburt meiner Tochter Amelie: der Titel verweist auch auf die Ankunft ihres Atemzugs.

Hörbeispiel: Die Ankunft des Atemzugs, 11 Min.

Vertonungen

Wie ich Worte in meiner Musik zum Klingen bringe, will ich an 3 Kompositionen veranschaulichen. Der Logopäde in mir spielt dabei wohl immer eine Rolle. In einem Interview sagte ich dazu:

„Als Logopäde arbeite ich u.a. mit Menschen, die Probleme mit ihrer Stimme haben, ich arbeite als Stimmtherapeut. Und das hat, insbesondere natürlich dann, wenn ich für Stimme komponiere, einen Einfluss darauf, wie ich mit Stimme umgehe. Mich interessiert sehr der „psychologische“ Aspekt der Vokale, sozusagen deren verschiedene Physiognomien.“ Das u sehe ich eher als „introvertierten Vokal, es öffnet nach innen, das a ist für mich eher der „Macho“ unter den Vokalen und das i richtet sich mitunter extrovertiert und agressiv nach außen. Die verschiedenen Vokale eignen sich auch unterschiedlich für verschiedene Tonhöhen. „Das ist sowohl therapeutisch als auch kompositorisch spannend für mich. Ich liebe langsame Vokalverwandlungen, das habe ich einmal mit einer Weltreise (allerdings zu Fuß oder wenigstens mit dem Fahrrad!) verglichen. Innerhalb dieser sehr langsamen Verwandlung, z. B.  vom i bis zum u, und vom u bis zum a, also a-o-u-ü-i, hören wir viele nicht näher definierte, 'unbekannte' Zwischen-Vokale. Ein sehr reiches, farbiges Spektrum an Klanglandschaften tut sich da auf und damit ist man dann bereits beim Obertonsingen angelangt“, dazu aber etwas später…

Zuvor noch möchte ich euch gerne „…wenn die Vögel die Nacht aufritzen - “ nach Worten von Nelly Sachs vorstellen.

(Es entstand 2007 im Auftrag der Internationalen Paul Hofhaymer Gesellschaft und wurde vom Vokalensemble Stimmwerck mit einem Countertenor, zwei Tenören und einem Bass in Salzburg uraufgeführt.)

Die wunderbare Dichterin Nelly Sachs musste vor den nationalsozialistischen Mördern ins Exil flüchten, nach Schweden, wo sie zu ihrer einzigartig poetischen Sprache fand, die allerdings von einer tiefen Beunruhigung kündet. Sie ist gezeichnet von den „Erschütterungen der Menschheit im Angesicht der Shoa.“ (Christine Rospert). Das unaufhebbar schmerzliche Ineinander von deutsch und jüdisch ist hinter ihren Worten spürbar...

Nicht um Textverständlichkeit ging es mir in dieser Komposition, nicht um eine komponierte Interpretation des Inhalts, vielmehr wollte ich den Worten auf den Grund gehen und die ihnen innewohnende Musik hörbar machen. Häufig setzt Nelly Sachs ans Ende einer Zeile oder eines Gedichts einen Gedankenstrich -  er scheint dem Klingen oder Rauschen der Vokale und Konsonanten die Weiße des Blattes zu öffnen. Diesem in den Raum weiterklingen wollte ich komponierend lauschen ohne das Verletzliche, Brüchige ihrer Worte, das Widerständige ihrer Gedichte zu überdecken….

Folgende Zeilen aus ihrem letzten Gedichtband „Suche nach Lebenden“ wurden „vertont“:

Teile dich Nacht

Deine beiden Flügel angestrahlt

zittern vor Entsetzen

(…)

 

Der Schlussabschnitt schließlich ist von Worten aus „Glühende Rätsel“ geprägt:

(…)

Su Su Su

(…)

O-A-O-A-

Ein wiegendes Meer der Vokale

Worte sind alle abgestürzt –

 

Das möchte ich euch gerne zu Gehör bringen…

Hörbeispiel: „…wenn die Vögel die Nacht aufritzen -“, 9 Min.

Die nächste Vertonung „land of closed eyes“ entstand 2012 für den Sänger und Obertonsänger Bernhard Li Bruckboeg und für das Ensemble die reihe. Inspirationsquelle waren Verse von Octavio Paz:

Es wuchs in meiner Stirn ein Baum.

Er wuchs nach innen.

Seine Wurzeln sind Adern,

Nerven sein Gezweig,

sein wirres Laubwerk Gedanken.

Deine Blicke entflammten ihn,

und seine Schattenfrüchte

sind Orangen aus Blut,

sind Granatäpfel aus Glut.

                                    Es wird hell

In der Nacht des Körpers.

Da drinnen, in meiner Stirn,

der Baum, er spricht.

                        Komm näher, hörst du’s?

Und als Motto stellte ich der Komposition 2 Verse voran:

Die Augen schließen sich,                                                                                                          

die Worte erblühen.

Klar wie Glas ist die Stunde:                                                                                                  

bleibt der Vogel unsichtbar, sehen wir

die Farbe seines Gesangs.

Ich möchte euch jetzt einladen, tatsächlich die Augen zu schließen, wenn ihr wollt und dem Beginn von „land of closed eyes“ zu lauschen:

Hörbeispiel: land of closed eyes, Ausschnitt, 7 Min.

Mein drittes Beispiel ist erst 2021 entstanden: das Musiktheater „Alles kann passieren – eine Chorprobe“ für 12 Vokalist:innen, Ensemble und Dirigent nach einer Idee von Falterchef Florian Klenk. Der Schriftsteller, Historiker und Aktivist Doron Rabinovici, der bereits 2018 eine Version für das Sprechtheater geschrieben hatte, verfasste nun das Libretto. Aus rechtlichen Gründen heißt das Stück jetzt „Die Einstimmung“.

Die Uraufführung fand 2021 im Radio Kulturhaus im Rahmen von Wien Modern statt.

Dieses szenische Konzertstück, so könnte es auch genannt werden, besteht fast ausschließlich aus den Reden von europäischen Rechtspopulisten. Zitiert werden Orban, Salvini, Zeman, Kickl & Strache.

Der Inhalt lässt sich in etwa so beschreiben:

Wir, das Publikum sind Zeugen einer Probe, Musiker:innen, Chorist:innen versammeln sich auf der Bühne. Sie musizieren, wetteifern und warten auf den Dirigenten, der endlich viel zu spät, erscheint und sich von Chor und Orchester frenetisch bejubeln lässt. Im Verlauf der Probe erweist er sich als eitel, chauvenistisch, sogar sadistisch, untergriffig und despotisch Offenbar ein autoritärer Typ, der sich hart an der Grenze einer satirischen Klischeedarstellung bewegt. Nichts ist ihm recht. Tatsächlich scheint kaum irgendetwas zu gelingen. Die geprobten Textfragmente wirken vorläufig noch vollkommen harmlos. Nichts weist darauf hin, dass es sich hier eigentlich um demokratiefeindliche, menschenverachtende Reden populistischer Politiker handelt. Schließlich gelingt die musikalisch-sängerische Umsetzung dann doch immer perfekter, die Textpassagen fügen sich zueinander, die Begeisterung wächst allerorten und es wird klar, wozu die Beteiligten sich hier hinreißen ließen.

„Die Szene mündet schließlich in ein 20-minütiges, furioses Orchesterstück. In dessen Verlauf treten vier Solostimmen - eine Koloratursopranistin, eine Kontraaltistin, ein Countertenor und ein sehr tiefer Bass - aus dem Chor hervor, die vier europäische Populisten verkörpern und die sich einen Streitgesang liefern, in dem es nicht nur darum geht, einander in virtuoser Stimmlichkeit zu übertreffen sondern auch in der inhaltlichen Brutalität der Texte. Am Ende kennt der Enthusiasmus im musikalischen Ausdruck keine Grenzen…“ (Michael Scheidl)

Das, was gesagt wird,“ schreibt Doron Rabinovici, „kann doch nicht wahr sein, denken wir, doch wen kümmert’s schon, denn es wird wahr, in dem es gesagt wird. Was nicht stimmt, stimmt ein, um die anderen niederzustimmen. Das Unsagbare ist wieder ausgesprochen beredt.“

Was mir an diesem musikalischem Polittheater wichtig ist, formulierte ich so:

„Der gesprochenen Rede von Politikern lauschend, als wär sie eine Arie oder raffiniert gesetzte Musik, begann ich zu komponieren, beachtete deren rhythmische Eigenheiten, Ambitus, Farbe, Klang und Prosodie. Wurde sie heuchelnd gehaucht, geflüstert, gesäuselt oder mit rauem Näseln, schreiend oder in beruhigender Sanftheit vorgetragen? Wussten die Akteure ihre Stimme mit markigem oder dünnem Ton einzusetzen, voller scheinbar echter Emotionen? Werden Lügen allein am Klang der Stimme hörbar? Schlägt die Stimmung auf die Stimme? Schlägt sie unvermittelt um und zu? Wann scheint eine Stimme gleichsam zu stolpern, brüchig oder hysterisch zu kippen, in zögernder oder in forcierter Weise Unsicheres hinwegzureden? Wann klingt ein Stimmlippenschluss entschlossen? Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, versuchte ich Rede und Wort allein in ihrem Klang zu erfassen, die unterschiedlichen Physiognomien der Stimmen komponierend zum Leuchten zu bringen, tief unter ihre Außenhaut hinein zu lauschen, ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und sie in einer Art Orkan der Stimmen zu vereinen. Sobald die Zunge artikuliert, fein gegen den formenden Mundraum trommelnd, der dosierte Atemstrom die entschlossenen Stimmlippen in Bewegung hält, schwingt auch das Instrumentalensemble, ein klingender Seismograph der verschämten wie unverschämten, der deprimierenden wie euphorisierenden Inhalte, eine Art vibrierender Detektor.“

Hörbeispiel, Alles kann passieren, Mittagsjournal & Auschnitte 12 Min.

land of sleepless mirrors, Replays, Musik über Musik II

Seit etwa 2006 entwickeln die Künstlerin Elisabeth Holzer und ich den umfangreichen Zyklus „land of sleepless mirrors“, der mittlerweile aus mindestens 10 Kompositionen in variantenreichsten Besetzungen besteht.

Elisabeths Gemälde entstehen gemeinsam mit der Musik: Der Komponist folgt dem Malprozess, lässt sich inspirieren von der Gestik der Malerin, dem Schwung ihres Pinsels, von Farbgebung und Form des gerade Gesehenen. Er „malt“ weiter und übermalt. Die Musik erfindet das Gesehene also neu und spinnt es weiter.

Umgekehrt setzt die Malerin an Gehörtem an und verwandelt bereits Komponiertes noch einmal: („Das Gleiche nochmals anders“, wie Samuel Beckett ebenfalls im Zusammenhang mit Malerei schrieb.)

Es ist, als ob Musik und Bild einander hervorbringen würden. Der Prozess der Entstehung wird durch die Komposition vorgeführt und nachvollziehbar.

So lässt sich schließlich die Musik sehen und das Bild hören.

Aber nicht nur Elisabeths Bilder werden musikalisch neu erzählt, sondern genauso bereits Komponiertes. Diese Werke nenne ich „Replay“. Etwa spürt mein Stück für Flöte solo „land der wachen spiegel“ die innerste Substanz des Klaviertrios „…aus Finsternissen losgelöst“ sowie der Ensemblekompositionen „Mandragora“ und „nacht schatten gewächse“ auf und spiegelt so nochmals diese Stücke aus unterschiedlichster Perspektive, nicht allein Elisabeths Bilder.

In manchen Kompositionen dieses Zyklus involvierte ich Worte des Wiener Dichters Semier Insayif. Ihm ist dann die Rolle des reflektierenden Betrachters & Hörers zugeordnet, der, sofern verwoben in die Komposition seinerseits Impulse zu setzten scheint…

Inzwischen planen wir ein Musiktheaterprojekt als Teil von „land of sleepless mirrors“. Thema sind die vier Elemente.

Eines der Stücke dieses Zyklus möchte ich euch zu Gehör bringen, das Saxophonkonzert „Vertigo.Saxophon.Desaster“. Ich versuchte, es dem Widmungsträger und Interpreten der Uraufführung, Gerald Preinfalk, gleichsam auf den Leib zu schreiben, lauschte seinen faszinierenden Eigenheiten, den Multiphonics, die dem Sopransaxofon zur Verfügung stehen und die Gerald auf unnachahmliche Weise zum Klingen bringt.

Jede gelungene Interpretation ist ein Geschenk und eine wunderbare Belohnung für die riesige Arbeit, die zuvor beim Komponieren stattgefunden hat. Die Begegnung mit den Musiker:innen ist immer bereichernd für mich: Wie setzt sie, er das Notierte um, was an kreativer Kraft bringen sie selbst ein, wo gibt‘s kritische Punkte etc., da findet im Idealfall wirklich ein Austausch statt, eine Kommunikation, die verändert.

Hörbeispiel Vertigo, 14 Min.

Aussichten

Derzeit arbeite ich an einem Stück für blinde Musiker:innen, für das „Sonnenorchester“ in Salzburg, das der Komponist und Oud-Virtuose Hossam Mahmoud gündete und betreut. Die Uraufführung soll Ende August 2024 im Mozarteum stattfinden.

Und zuletzt kündige ich euch meine nächste Komposition an:

 „…und fühl in Finsternissen das sagende Gesicht“ wird ein ca. 60 Min. dauernder Zyklus für Bariton und Ensemble als Hommage an den Komponisten Viktor Ullmann. Inspirationquellen sind Kompositionen Viktor Ullmanns sowie Prosawerke und Gedichte von Rose Ausländer, Karl Kraus, Doron Rabinovici, Nelly Sachs, Robert Schindel & Viktor Ullmann, die ich bereits assoziativ zu einem „Stück in mehreren Bildern“ verknüpft habe.

Insbesondere das „Andante“ der im Konzentrationslager Theresienstadt entstandenen fünften Klaviersonate Viktor Ullmanns fungiert als eine Art „Tapete“, von der Karl Kraus in seinem Gedicht „Vor dem Schlaf“ spricht und vor der sich wie vor einem Bühnenbild im Theaterraum die „Handlung“ meiner Komposition entwickelt.

Vor dem Schlaf

So spät ist es, so späte,                                                                                                             was werden wird, ich weiß es nicht.
Es dauert nicht mehr lange,
mir wird so bange,
und seh' in der Tapete
ein klagendes Gesicht.

Allein bin ich, alleine,
was außerhalb, ich weiß es nicht.
Ach, daß mir's noch gelänge,
mir wird so enge,
und seh' in jedem Scheine
ein fragendes Gesicht.

Nun bin ich schon entrissen,
was da und dann, ich weiß es nicht,
ich kann sie nicht behalten
die Wahngestalten
und fühl' in Finsternissen
das sagende Gesicht.                                                                                                      

Komponiert wird ein Gang in unterschiedlichstem Tempo durch die Landschaften von Viktor Ullmanns Musik und meine dabei entstehenden instrumentalen Gedanken und Reflexionen. als eine komponierte Recherche, als klingende, genaue Analyse der mäandernden Harmonik und polyphonen Strukturen, deren Ergebnisse vorläufig noch nicht absehbar, noch „unerhört“ und selbst Kunstwerk sind. Sie könnten einem auskomponierten Echo von Ullmanns Andante gleichen, dem Widerhall, den diese Musik in mir auslöst, der Eigendynamik entwickelt und der die Worte der Autor*innen inmitten der neuen Strukturen durch die Stimme des Baritons zum Leuchten bringt…

Die Rezeption der Stücke Ullmanns ist eng mit Theresienstadt verknüpft. Denn ein Großteil seines überlieferten Gesamtwerks entstand unter den entsetzlichen Bedingungen des von den Nazis als „Täuschungstheater“ für die Außenwelt inszenierten Lagers. Theater- und Musikaufführungen waren hier möglich. Mit der Lüge „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ wurde eine internationale Delegation des Roten Kreuzes hinters Licht geführt.

Viktor Ullmanns Klänge jener Zeit deute ich auch als Botschaften: Ich nehme sie wahr als von den Nationalsozialisten zynisch erlaubte Mitteilungen und gleichzeitig als „Kassiber“ eines im Spannungsfeld zwischen Täuschung und geistigem Widerstand stehenden Künstlers.

In ihrer verspäteten „Ankunft“ ähneln Ullmanns jahrelang verdrängte Kompositionen den unzähligen Briefen, die der Protagonist in Doron Rabinovicis Erzählung „Nachsendungen“ von seinen Verwandten, Jahre nach deren Ermordung, im Postkasten seiner verstorbenen Mutter vorfindet. Wie diese „Botschaften“ der ins Konzentrationslager Verschleppten wurde Ullmanns Werk erst Jahrzehnte nach der Entstehung für die Welt zum Vorschein bzw. zum Klingen gebracht. Den „Nachsendungen“ ist in der Komposition ein eigener Abschnitt gewidmet:

Der Historiker wies mit der Zigarette rundum und der Qualm stieg im Kreis:

„(…) Ich sehe Gesichter hinter den Namen. (…) Es werden laufend mehr. Es wird immer enger in diesem Raum. Ich wohne mit ihnen. Ich wache mit ihnen auf und gehe mit ihnen schlafen.“

(…) die Worte stiegen als Rauch aus seinem Mund (…)

„… und fühl in Finsternissen das sagende Gesicht“ entsteht für den Sänger Steven Scheschareg, dessen Eltern vor den Nationalsozialisten fliehen mussten und der sich in zahlreichen Konzerten für die Musik der Ermordeten, Vertriebenen und Vergessenen einsetzt. Ebenso versiert und leidenschaftlich interpretiert er die Musik der Gegenwart. Timbre und Charakter seiner Stimme fungieren als wesentliche Anregung für die physiognomische Gestaltung meiner Musik. Nicht selten scheint der Atem des Sängers über die Harmonien hinwegzufegen, sie kräuseln lassen und so den entstehenden Strukturen und Verzweigungen Leben einzuhauchen. Gemäß den unterschiedlichen Teilen innerhalb Ullmanns „Andante“ ist meine Komposition zyklisch angelegt. Jeder Satz, jedes „Kapitel“ entspricht einem Abschnitt.

Zu Beginn des Jahres 2025 gelangen Teile dieses Kompositionszyklus, die ein stimmiges Ganzes bilden, im Reaktor im Rahmen der Konzertreihe des Ensemble Reconsil unter der Leitung von Antanina Kalechyts und mit Steven Scheschareg zur Uraufführung.

Dorthin seid ihr herzlich eingeladen!

Ich danke euch sehr für’s Lauschen meiner Worte und v.a. meiner Musik…. Danke!

                   (Oktober 2023, auf Einladung von Richard Dünser, Vortrag für die Kunstuniversität Graz)