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Alles kann passieren

eine Chorprobe

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Norbert SterkDoron Rabinovici

Autor(en)

Norbert Sterk | Doron Rabinovici

Bericht über die Uraufführung im Mittagsjournal Ö1
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Norbert Sterk, Komposition & Doron Rabinovici, Libretto  

Die Einstimmung wurde unter dem Titel Alles kann passieren - eine Chorprobe beim Festival Wien Modern als szenisches Konzert uraufgeführt und besteht fast ausschließlich aus den Reden von europäischen Rechtspopulisten. Zitiert werden Orban, Salvini, Zeman, Kickl & Strache.

Der Inhalt lässt sich in etwa so beschreiben...

Wir, das Publikum sind Zeugen einer Probe, Musiker:innen, Chorist:innen versammeln sich  auf der Bühne. Sie musizieren, wetteifern und warten auf den Dirigenten, der endlich viel zu spät, erscheint und sich von Chor und Orchester frenetisch bejubeln lässt. Im Verlauf der Probe erweist er sich als eitel, chauvenistisch, sogar sadistisch, untergriffig und despotisch Offenbar ein autoritärer Typ, der sich hart an der Grenze einer satirischen Klischeedarstellung bewegt. Nichts ist ihm recht. Tatsächlich scheint kaum irgendetwas zu gelingen. Die geprobten Textfragmente wirken vorläufig noch vollkommen harmlos. Nichts weist darauf hin, dass es sich hier eigentlich um demokratiefeindliche, menschenverachtende Reden populistischer Politiker handelt. Schließlich gelingt die musikalisch-sängerische Umsetzung dann doch immer perfekter, die Textpassagen fügen sich zueinander, die Begeisterung wächst allerorten und es wird klar, wozu die Beteiligten sich hier hinreißen ließen.

„Die Szene mündet schließlich in ein 20-minütiges, furioses Orchesterstück. In dessen Verlauf treten vier Solostimmen - eine Koloratursopranistin, eine Kontraaltistin, ein Countertenor und ein sehr tiefer Bass - aus dem Chor hervor, die vier europäische Populisten verkörpern und die sich einen Streitgesang liefern, in dem es nicht nur darum geht, einander in virtuoser Stimmlichkeit zu übertreffen sondern auch in der inhaltlichen Brutalität der Texte. Am Ende kennt der Enthusiasmus im musikalischen Ausdruck keine Grenzen…“ (Michael Scheidl)

Das, was gesagt wird,“ schreibt Doron Rabinovici, „kann doch nicht wahr sein, denken wir, doch wen kümmert’s schon, denn es wird wahr, in dem es gesagt wird. Was nicht stimmt, stimmt ein, um die anderen niederzustimmen. Das Unsagbare ist wieder ausgesprochen beredt.“

Was mir an diesem musikalischem Polittheater wichtig ist, formulierte ich so:

„Der gesprochenen Rede von Politikern lauschend, als wär sie eine Arie oder raffiniert gesetzte Musik, begann ich zu komponieren, beachtete deren rhythmische Eigenheiten, Ambitus, Farbe, Klang und Prosodie. Wurde sie heuchelnd gehaucht, geflüstert, gesäuselt oder mit rauem Näseln, schreiend oder in beruhigender Sanftheit vorgetragen? Wussten die Akteure ihre Stimme mit markigem oder dünnem Ton einzusetzen, voller scheinbar echter Emotionen? Werden Lügen allein am Klang der Stimme hörbar? Schlägt die Stimmung auf die Stimme? Schlägt sie unvermittelt um und zu? Wann scheint eine Stimme gleichsam zu stolpern, brüchig oder hysterisch zu kippen, in zögernder oder in forcierter Weise Unsicheres hinwegzureden? Wann klingt ein Stimmlippenschluss entschlossen? Wie durch ein Vergrößerungsglas betrachtet, versuchte ich Rede und Wort allein in ihrem Klang zu erfassen, die unterschiedlichen Physiognomien der Stimmen komponierend zum Leuchten zu bringen, tief unter ihre Außenhaut hinein zu lauschen, ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten und sie in einer Art Orkan der Stimmen zu vereinen. Sobald die Zunge artikuliert, fein gegen den formenden Mundraum trommelnd, der dosierte Atemstrom die entschlossenen Stimmlippen in Bewegung hält, schwingt auch das Instrumentalensemble, ein klingender Seismograph der verschämten wie unverschämten, der deprimierenden wie euphorisierenden Inhalte, eine Art vibrierender Detektor.“